Was zählt ist die Mässätsch

Keine Angst vor eigenen Schwächen. Und: „Rechtschreibunk“ ist auch gar nicht so wichtig :).  Anna Goldhorn, Projektleiterin des Grundbildungszentrums Jerichower Land, über Geringe Literalisierung Wissensvermittlung für Erwachsene und Lernen mit einem Augenzwinkern.

Grundbildung – was ist das überhaupt?

Das sind grundlegende Fähigkeiten und Kenntnisse, die jeder von uns braucht, um selbstbestimmt den Alltag zu meistern und am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Konkret geht es ums Lesen und Schreiben, um Grundlagen des Rechnens, aber auch um das Beherrschen von Alltagskompetenzen wie den Umgang mit Geld, das Verstehen rechtlicher Grundlagen, soziale Kompetenzen bis hin zu politischen und kulturellen Grundkenntnissen.

 

Ist das nicht selbstverständlich?

Durchaus nicht. Laut der wissenschaftlichen Studie der Universität Hamburg LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität aus dem Jahr 2018 zählt Deutschland mehr als sechs Millionen Erwachsene, die Probleme beim Lesen und Schreiben haben. In Sachsen-Anhalt sind es 150.000 bis 200.000. Mit Auswirkungen, die sich viele von uns gar nicht vorstellen können. Da gibt es Menschen, die nicht in einen Bus einsteigen, weil sie nicht lesen können, wohin er fährt. Andere würden gern ihren Führerschein machen, wissen aber, dass sie das ohne Hilfe nicht schaffen. Über 60 Prozent der Betroffenen sind in Arbeit. Wenn aber der Chef einen Aufstieg auf der Karriereleiter vorschlägt, trauen sich das viele nicht zu. Das geht bis zu Kündigungen aus Angst, zu scheitern und entdeckt zu werden.

 

Wie kann das sein bei der allgemeinen Schulpflicht?

Zu große Klassen und Schlechte Erfahrungen in der Schule, da hat man sich durchgemogelt. Der Abschluss wurde gerade so mit Hängen und Würgen bestanden. Und danach hat man sich nicht selbst darum gekümmert, weiter zu lernen. Dann verändert sich eben auch nichts.

 

Und wie wollen Sie das jetzt ändern?

Im gesamten Land Sachsen-Anhalt werden sogenannte Grundbildungszentren etabliert. Insgesamt acht, sechs gibt es bereits - wie hier in Burg das von Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt Anfang April 2023 gegründete Grundbildungszentrum Jerichower Land, ansässig bei der benvivo gGmbH im Burger Kulturturm, mit der wir auch eng kooperieren. Ich selbst vertrete die Arbeit und Leben Sachsen-Anhalt gGmbH – eine öffentlich anerkannte Einrichtung der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Wir kümmern uns um 15- bis 64 Jährige, denen wir durch die Finanzierung des Europäischen Sozialfonds und des Landes Sachsen-Anhalt kostenfreie Angebote unterbreiten können.

 

Mit welchem Ziel?

Wir möchten den Betroffenen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Denn Fakt ist, dass Menschen mit geringer Grundbildung auch schlechtere Chancen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt haben.

 

Wie soll und kann das gelingen – speziell hier im Jerichower Land?

Mit unseren vielfältigen Angeboten und Kursen. Darunter Alphabetisierungsangebote, angepasst an den persönlichen Bedarf. Zum Beispiel Deutsch in Alltag und Beruf auf unterschiedlichem Niveau –  sowie für Muttersprachler als auch für Deutsch als Zweitsprache. Dann die Kurse zur finanziellen Grundbildung. Da geht es um Fragen: Wie geht man mit Geld um? Auf was muss ich achten? Wie nutze ich Onlinebanking?

Unser Kurs „Schriftkram im Alltag“ kümmert sich um Antragshilfen, darum, Dokumente zu verstehen (vor Bürokratie sind wir alle nicht gefeit), um das Schreiben von Bewerbungen, eines guten Lebenslaufes. Sowie um alle weiteren Themen, die die Teilnehmenden an uns herantragen.

 

Und es gibt auch Kultur?

Auf jeden Fall und nicht zu unterschätzen! Im Angebot „Freie Bühne Burg“ geht es um Grundbildung im theaterpädagogischen Bereich. Wie auch darum, Betroffene über die Kultur zu erreichen. Wenn du etwas Kreatives machst, zum Beispiel auf der Bühne stehst, dann arbeitest du automatisch an deiner Aussprache, verbesserst dein Denkvermögen, erweiterst dein Selbstbewusstsein. Und das alles ganz ohne stures Büffeln. Ähnlich kreativ geht’s in unserem Kochkurs „B wie Backfisch“ zu, bei dem wir das Thema gesundheitliche Grundbildung aufgreifen.

 

Sie kooperieren mit Unternehmen?

Ja, ganz wichtig! Unternehmen schicken uns Mitarbeitende, mit denen wir im arbeitsorientierten Kontext arbeiten. Das heißt zum Beispiel, dass wir uns Dokumente der Unternehmen vornehmen, die verstanden werden müssen. Eine Arbeitsanweisung, Arbeitsschutzbelehrungen etc. Die bauen wir dann zum Beispiel in unsere Kurse ein.

 

Sich den eigenen Defiziten zu stellen – sicher ein heikles Thema. Wie gehen Sie damit um?

Die Herausforderung für uns besteht darin, die Leute mit unseren Angeboten auch tatsächlich zu erreichen und ihnen dabei zugleich die Ängste zu nehmen. Das machen wir auch nicht allein, sondern gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern, die wir als Multiplikatoren nutzen. Am Ende müssen die Betroffenen allerdings von selbst zu uns kommen – eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen. Denn nur dann stehen ihnen viele Chancen offen.

 

Wie läuft das im Grundbildungszentrum bei benvivo ab?

Wer zu uns kommt, wird erst mal beraten. So möchten wir herausfinden, welche Art von Unterstützung der- oder diejenige benötigt. Zugleich zeigen wir die Chancen auf, die wir hier bieten können. Der Unterricht erfolgt in kleinen Gruppen, manchmal sogar individuell, unter Anleitung einer ausgebildeten pädagogischen Fachkraft und mit speziellen Materialien der Erwachsenenbildung.

 

Warum empfehlen Sie die Grundbildung?

Zuerst einmal will ich ganz klar sagen: Defizite müssen nichts Schlechtes sein. Und besser gehts eigentlich fast immer. Der Charme unserer Angebote: Sie sind niederschwellig, offen, sehr individuell und sie finden in der Gemeinschaft von benvivo statt. Hier macht Lernen einfach Spaß und erfolgt manchmal eben auch mit einem Augenzwinkern. Ich sage nur: Rechtschreibunk ist gar nicht so wichtig. Was zählt ist die Mässätsch!